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Wachstum ohne Grenzen?

08 November 2017 von Gunda Kraepelin

Nachhaltigkeit aus naturwissenschaftlicher Sicht:
Leitlinien für Wirtschaft und Technik der Zukunft

Prof. Dr. Gunda Kraepelin nach einem in den 1990er Jahren gehaltenen Vortrag

Ganz bewusst habe ich – sozusagen als Leitmotiv – die sehr pauschale, aus meiner Sicht aber typisch anthropozentrische Zielvorstellung eines „Wachstums ohne Grenzen“ an den Anfang gestellt, weil sich das Streben nach unbegrenztem Wachstum fast unmerklich in unser Handeln eingeschlichen hat und wir den Konsequenzen auch heute immer wieder begegnen.

Wachstum bedeutet, biologisch definiert, die quantitativ messbare, irreversible Zunahme der lebendigen Biomasse einer Zelle bzw. eines höher organisierten Individuums. Somit ist die Fähigkeit zu wachsen eine der notwendigen aber allein genommen nicht hinreichenden Voraussetzungen in der Definition von Leben. „Wachstum ohne Grenzen“ ist darin ebenso wenig vorgesehen wie Wachstum ohne Konsequenzen. In der Koppelung der beiden Grundphänomene Zell-Wachstum und bei Erreichen einer kritischen Größe Zell-Teilung (= Zell-Vermehrung) manifestiert sich vielmehr der erstrebenswerte Zustand hoher Produktivität, der lebenden Systemen eigen ist. Allerdings kostet allein schon die Erhaltung lebender Systeme erst einmal eine Menge Energie.

Zellen als kleinste individuelle Biomasseeinheit leben bekanntlich als thermodynamisch offene Systeme, d.h. sie stehen in einem beständigen Austausch von Energie und Materie mit ihrer Umwelt. Nur in einem engen Regulationsbereich, wo Zustrom und Abfluss von Energie und Materie etwa gleich groß sind, besteht ein so genanntes Fliessgleichgewicht („steady state“). Dieser Zustand kann nur dadurch aufrechterhalten werden, dass das Erreichen des thermodynamisch stabilen Gleichgewichtes, das den Tod bedeutet, ständig verhindert wird. Vereinfacht können wir uns ein offenes System im Fliessgleichgewicht etwa wie ein Überlaufsystem vorstellen, in dem der Wasserspiegel durch Änderung des Zu- und Abflusses auf möglichst hohem aber konstantem Niveau (steady state) gehalten wird. Dabei ist ein wesentlicher Vorteil, dass im Fließgleichgewicht, wo aufbauende und abbauende Stoffströme ständig im Fluss sind, das System optimal regelbar ist, die geringste Stress-Empfindlichkeit aufweist und mit geringstem Energieaufwand in größtmöglicher Ordnung gehalten werden kann.

Wie energieaufwendig es allein schon ist, am Leben zu sein und zu bleiben ist, verdeutlicht im übrigen auch die allgemein bekannte Tatsache, dass vom Stoffumsatz eines Organismus durchschnittlich nur etwa 10% in dessen Biomasseproduktion bzw. -Regeneration fließen, während 90% zur Deckung des Energiebedarfes verbraucht werden.

Zur Finanzierung des hohen Energieaufwandes haben die Organismen im Lauf der Zeit eine Vielzahl unterschiedlicher und meist höchst effizienter (d.h. ökonomischer) Mechanismen zur Energiegewinnung, zur Energieeinsparung, zur Energienutzung und zur Energieübertragung „erfunden“. Dazu gehört auch die Atmung, die mit dem Auftreten von Sauerstoff in der Erdatmosphäre vor rund 3 Milliarden Jahren entstand und bei der in den organischen Substanzen enthaltener Wasserstoff mit Luftsauerstoff in einer gebremsten Reaktionskette stufenweise vollständig (d.h. zu Wasser) oxidiert wird. In den optimierten biologischen Atmungsketten können dabei Ausbeuten an biochemisch nutzbarer Energie von über 40% erzielt werden.

Der Drang zu Überleben ist dem kleinsten, primitivsten Einzeller bereits angeboren und so verwundert es nicht, dass die Entwicklung von „Überlebensstrategien“ zum Phantasievollsten und Faszinierendsten in der Biologie gehört. Wir sagen ja noch heute, dass „Not“ erfinderisch macht – und wo der Erfindungsgeist erlahmt und die Langeweile überhand nimmt, da bieten wir neuerdings künstliches Überlebenstraining im Wald an oder veranstalten Kreativitätskurse für Ingenieure in der Universität…

Bedauerlicherweise haben die Biologen, die seit langem über die erforderlichen Detailkenntnisse verfügen, erst jetzt unter dem zunehmenden Druck der bedrohlichen Umweltprobleme damit begonnen, die Erkenntnisse aus der Ökologie, die sich ja primär mit der Analyse der Wechselwirkungen zwischen Lebewesen und Umwelt befasst, zu systematisieren und zu modellieren. Und zwar so, dass sich darauf aufbauend auch für den Konfliktbereich Mensch/Umwelt adäquate, langfristig tragfähige „Vermeidungsstrategien“ ableiten ließen. Mit dem zum Modewort erhobenen Begriff der „Nachhaltigkeit“ scheinen wir immerhin die Einsicht zu verbinden, uns ernsthaft mit den anstehenden Konflikten befassen zu müssen, damit nicht wir als zivilisierte Menschen nach den Fortschritten der Evolution am Ende ohne „Überlebensstrategie“ dastehen.

Vielleicht könnte ja auch schon die Tatsache, dass wir selbst auf Lebenszeit komplexe, biologische Systeme bleiben werden, uns dabei helfen, zunächst einmal unsere eigenen physischen Grenzen anzuerkennen und zu respektieren. So gesehen, sind wir Menschen zwar hoch entwickelte aber noch ziemlich unverstandene Unikate, die jeweils aus zig Billionen Zellen bestehen und in unserer Überlebensfähigkeit – trotz aller Fortschritte in der Gentechnik – immer noch darauf angewiesen sind, aus uns heraus ganzheitlich zu funktionieren (und das „mit Leib und Seele“…).

In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, wie gerade in der modernen Medizin sehr deutlich wird, dass der „naturbelassene Mensch“ mehr ist als die Summe seiner einzelnen Organe, die wir im Zuge der analytischen und technischen Perfektionierung jeweils unterschiedlichen Fachärzten zugewiesen haben, während das puzzle der Resynthese und Heilung des Menschen als Ganzes letztlich jedem selbst oder alternativen Heilverfahren überlassen bleibt. Ob dies langfristig der richtige, das „Wunderwerk Mensch“ adäquat würdigende Weg ist…?

Im artspezifischen Verhaltensmuster von Organismen lassen sich einzelne Elemente (bzw. Leistungen) stets auch als Teil einer „ökologischen Überlebensstrategie“ deuten. Mit anderen Worten, innerhalb der jeweils unterschiedlichen Gesamtkonzepte erkennen wir Komponenten – sozusagen Module – die sich offenbar in der Evolution immer wieder bewährt haben. So kommt z. B. bei Pflanzen die Eigenschaft, den Winter oder sommerliche Trockenperioden als unterirdische Rübe oder Knolle zu überdauern, bei sonst ganz unterschiedlichen Pflanzenarten und in unterschiedlichen geographischen Breiten vor. Bei solchen wiederkehrenden Eigenschaften handelt es sich also um systematisierbare Überlebensprinzipien. Physiologische Module wie z.B. die Atmungskette, die sich bewährt haben, werden in der Evolution übrigens sehr konservativ behandelt und auf ganz unterschiedlichen Entwicklungsstufen eingebaut. Man findet solche Module vor allem in Bereichen, wo es um ökonomische Problemlösungen geht, beispielsweise Energieeinsparung, Rückkopplungsmechanismen, Kreislaufprozesse, vernetzte Regelkreise, Produkt-Differenzierung, Systemoptimierung, Recycling, Nutzung von Synergieeffekten und alternativer Energiequellen – Das sind, ganz moderne Begriffe, die sich aber sinngemäß hier durchaus anwenden lassen. Auf das eigenständige Gebiet der Bionik, das sich vor allem biologische Bauprinzipien zunutze macht, sei hier nur am Rande verwiesen.

Betrachten wir nun – unter vereinfachendem Blickwinkel die zwei für die Evolutionsfähigkeit biologischer Systeme ausschlaggebenden Parameter: 1. Die von der genetischen Reproduktion der Organismen generierte und garantierte Diversität der Individuen und 2. Diejenigen variablen Umweltfaktoren, von denen jeweils ein (+/- standortspezifischer) Selektionsdruck ausgeht. Allerdings möchte ich hierzu sogleich betonen, dass ein naturgegebener Selektionsdruck sich in der Regel, d.h. abgesehen von gelegentlichen Naturkatastrophen, in kleinen Schritten über zig Generationen vollzieht, so dass es nicht zu einer destabilisierenden Reduzierung der Artenvielfalt, d.h. genetischen Verarmung, im Ökosystem kommt. Nur so können sich dauerhaft neue Arten und neu kombinierte Überlebensstrategien herausbilden. Dass die in der Evolutionstheorie geforderte Selektion sich einerseits zwingend an den naturwissenschaftlichen Grundgesetzen der Physik und Chemie ausrichtet, im übrigen aber nicht, wie man ihr oft unterstellt, streng nach dem Prinzip einer „selection of the fittest“ operiert, sondern ein hohes Maß an Toleranz aufweist, lässt sich vielfältig belegen. Teleologisch würden wir sagen, eine intelligente Toleranz (von intelligens = einsichtig), denn sie operiert eben nicht kurzsichtig und gewinnorientiert, sondern sie schließt die Vielfalt, die individuelle Diversität und Entfaltungsmöglichkeit nachfolgender Generationen mit ein – und dies sicher nicht aus Altruismus. Vielmehr wissen wir heute, dass durch Artenvielfalt gekennzeichnete Ökosysteme insgesamt gesünder (vitaler) sind, gegen Schädlinge oder Witterungseinflüsse weniger anfällig reagieren als im Extremfall intensiv landwirtschaftlich genutzte Flächen oder übernutzte Monokulturen, auf denen ein unnatürlich verengter Selektionsdruck lastet.

Während wir Menschen mit dem Begriff „Strategie“ vor allem aktive bis kriegerische Auseinandersetzungen verbinden und zu deren Motivation definierte Zielvorstellungen und Feindbilder konstruieren, sind gegen potentielle Feinde gerichtete „combative strategies“ in der Biologie erstaunlich selten. So werden z.B. hoch wirksame Antibiotika oder Toxine von den sie produzierenden Mikroorganismen unter Freilandbedingungen offenbar gar nicht zur Bekämpfung potentieller Feinde bzw. Konkurrenten eingesetzt, sondern haben ganz andere oder für uns gar keine erkennbaren Funktionen. Ähnlich wie „kämpferische Fähigkeiten“ haben auch andere aus anthropozentrischer Sicht für den „Überlebenskampf“ nützliche Fähigkeiten biologisch keinen generell positiven Selektionswert. Das gilt übrigens auch für so typische Zielvorgaben wie „schneller, stärker, höher“ und andere Höchstleistungen. Solche, nur durch einseitige Förderung erreichbaren Leistungssteigerungen würden ja in einer vor allem durch Limitierungen – s. Liebig´s „Gesetz des Minimums“ – gekennzeichneten Umwelt auch nur selten bzw. kurzzeitig von Vorteil sein. Macht doch eine schnellst-mögliche Entwicklung als Bestandteil einer Überlebensstrategie nur dann Sinn, wenn der Organismus – z.B. eine Pflanze oder ein Pilz – dadurch eine kurze, klimatisch günstige Vegetationsperiode nutzen kann aber außerdem die Fähigkeit besitzt, die übrige Zeit des Jahres – die 90% ausmachen kann – als Same oder als Spore in einem weitgehend inaktiven Ruhestadium zu überdauern.

Ganz allgemein kann man wohl sagen, dass Höchstleistungen, die eine Maximierung einzelner Stoffwechselprozesse voraussetzen, sich in der Biologie nicht bewährt haben. Dementsprechend sind komplexe Höchstleistungen wie „maximales Wachstum“, zwar prinzipiell durchaus machbar, besitzen aber keinen positiven Selektionswert und können sich – künstlich herbeigeführt – geradezu lebensgefährlich auswirken. Wie lebensgefährlich es für eine artenreiche und ausgewogene Organismen-Population wird, wenn man in die natürliche Resourcenlimitierung eingreift und gegen das „Gesetz des Minimums“ verstößt, haben uns vor allem unsere Binnengewässer eindrucksvoll vor Augen geführt: Gewässer reagieren besonders empfindlich auf Phosphatzufuhr, weil Phosphat hier in der Regel als begrenzender Faktor die primäre Algenproduktion steuert: So kann Phosphat-Überschuß eine nicht mehr regelbare und letztlich destruktive Reaktionskette in Gang setzen. Sie beginnt meist in den Sommermonaten mit einer geradezu explosionsartigen Massenentwicklung einiger weniger Algenarten – im Extremfall sogar nur einer einzigen, an Phosphat-Überschuß am besten angepassten Art! Dann folgen: Eine entsprechend massive Vermehrung der Algen-Konsumenten (Zooplankton), der Zusammenbruch der Algenmasse, Sauerstoffmangel durch intensive Abbauprozesse und schließlich die Vergiftung auch der Unbeteiligten durch anaerobe Faulgase. Im Endeffekt ist das ganze Gewässer – wie wir sagen „umgekippt“. Die Quintessenz dieser Vorgänge ist: Wir haben gegen das begrenzende „Gesetz des Minimums“ verstoßen. Wir haben eine Limitierung (hier Phosphat-Minimum) aufgehoben und haben in dem dadurch grundlegend veränderten System eine neue Limitierung an einer ganz anderen, vorher kaum absehbaren Stelle, erzeugt (hier Sauerstoff-Minimum), die dem ganzen System zum Verhängnis wurde. Wen wundert´s da noch, wenn die Natur eine solche Produktionssteigerung durch „selection of the fittest“ nicht für erstrebenswert hält- und wir, mit unserer Vernunft, dem nur beipflichten können ? Das ursprünglich aus der Pflanzendüngung abgeleitete „Gesetz des Minimums“, das besagt, daß das Wachstum einer Pflanze von dem jeweils im Minimum vorhandenen Nährstoff bestimmt wird, dürfte im übrigen auf jedes komplexe Betriebssystem übertragbar sein und manche böse Überraschung nachträglich plausibel erklären.

Optimierung bedeutet biologisch immer ganzheitliche Optimierung. Dabei werden im Gegensatz zur Maximierung, alle an einem komplexen Geschehen beteiligten Einzelgrößen in der insgesamt günstigsten Abstimmung aufeinander verbessert. Ganz wichtig ist dabei, dass der Regelungsspielraum nach oben und nach unten erhalten bleibt und noch voll ausgenutzt werden kann, so dass das System nicht entgleist.

Es liegt auf der Hand, dass Regulationsmechanismen integrale Bestandteile biologischer Systeme sind. Wir finden sie von der molekularen Ebene bis zu den Zell-Zell-Wechselwirkungen auf Populationsebene. Dabei sind die ausgeklügelten Regulationen auf Populationsebene noch ein besonderes Kapitel für sich, auf das ich hier nur am Rande eingehen kann. Da geht es nämlich zusätzlich um höchst spannende Themen wie z.B. die Fragen, wie auf phylogenetisch niedrigen Stufen (nämlich schon bei Einzellern) Phänomene wie interzelluläre Kommunikation und Kooperation, Synchronisierung, Rhythmik oder gar ein „social behaviour“ im Rahmen von Überlebensstrategien erreicht und geregelt werden.

Biogisches Sozialverhalten lässt sich vereinfacht definieren als partielle Minderung individueller Freiheiten zu Gunsten kooperativer Gesamtinteressen. Zell-Zell-Kommunikation, die auf niedrigen Entwicklungsstufen allein über chemische Signale erfolgt, vermittelt die physiologische Koordination und Etablierung artspezifischer „Kooperativitäts-Muster“. Dies gilt in ähnlicher Weise für einzellige Bakterien oder niedere Pilze wie für staatenbildende Bienen oder Ameisen oder letztlich für die in Rudeln lebenden Säugetiere. Eine für alle Beteiligten verbesserte Überlebenschance kommt dabei, soweit bekannt, ursprünglich dadurch zustande, dass die Energieverluste nach außen in koordiniert aktiven Vielzellen-Systemen erheblich reduziert werden können. Dabei gilt zumindest auf den niedrigen Evolutionsstufen, dass Not nicht nur erfinderisch, sondern auch sozial macht. Dementsprechend oft gerät das Sozialverhalten wieder ins Hintertreffen, sowie die Not vorüber ist. Uns hoch zivilisierten Menschen, die wir uns vom naturbedingten Selektionsdruck weitgehend ausgekoppelt haben, bleibt wohl nur der moralisch-ethische Appell, die Wurzeln dieses biologischen „Ur-Sozialverhaltens“ und andere Instinkte wie das „Ur-Vertrauen“ nicht ganz verkümmern zu lassen, sondern nachhaltig weiter zu entwickeln.

Ohne vernetzte Regelkreise würde jedenfalls weder der Stoffwechsel eines Einzellers noch die Lebensgemeinschaft eines Ökosystems – einschließlich Mensch mit rund 10 hoch 12 Einzelzellen! – funktionieren. Interessanterweise spielen gerade bei den Regulationsmechanismen biochemische Limitierungen und Hemmeffekte (z.B. Substratlimitierung, Endprodukthemmung) als primäre Steuerungssignale offenbar eine weitaus größere Rolle als Förderungen. In diesem Zusammenhang muss man sich aber immer wieder vor Augen führen, dass biologisch betrachtet, „Limitierung“, „Mangel“ oder „Hemmung“ nicht negativ oder gar bedrohlich zu werten sind. Vielleicht ganz einfach deshalb nicht, weil ein Mangel, der als Steuerungssignal genutzt wird, lange bevor die Situation lebensbedrohlich wird, ökonomische Potentiale mobilisieren kann und sich somit positiver auswirkt als z.B. etwas zu produzieren, das dann gar nicht gebraucht wird und den Stofffluss als Lebensgrundlage nur unnötig verstopft.

Mit Überschüssen oder gar unbegrenzten Ressourcen werden biologische Systeme viel schwerer fertig als mit Mangelsituationen. Zunächst werden aus Überschüssen durchaus zweckmäßige Reservestoffe synthetisiert und deponiert dann scheinbar nutzlose Sekundärmetabilite, die man (häufig zu Unrecht) der so genannten „Spielwiese der Evolution“ zuordnet. Schließlich kann es auch zu einem regelrechten „energy wasting“ und zu Leerlauf-Reaktionen oder zur Synthese und Ausscheidung von Wertstoffen kommen; Hauptsache der lebenserhaltende Stofffluss bleibt im Gang. Während solche Reaktionen durchaus noch im regulatorisch abgedeckten Bereich liegen, kann das von außen überforderte System nachhaltig „aus den Fugen“ geraten. Solche Stoffwechsel-Entgleisungen, die mit einem ganz gezielt induzierten Uberschuss-Stoffwechsel verbunden sind, werden z.B. in den Hochleistungsstämmen von Pilzen oder Bakterien biotechnologisch genutzt. Allerdings werden die Vitalität bzw. die Degeneration solcher „Zuchtstämme“ oft schon nach wenigen Generationen zum Problem.

Hierzu möchte ich abschließend noch einen Aspekt aus der Ökologie an-sprechen, den wir m. E. überhaupt noch nicht richtig verstanden und in den Konsequenzen verarbeitet haben: Stickstoff ist nach Kohlenstoff nicht nur das mengenmäßig wichtigste Wachstumssubstrat sondern auch regulatorisch von zentraler Bedeutung. Naturgemäß ist Stickstoff in terrestrischen Ökosystemen – analog dem Phosphat in Gewässern – der primäre, das Pflanzenwachstum limitierende Faktor. Langlebige Waldgesellschaften haben sich unter diesen Bedingungen entwickelt und optimal an den beständigen N-Mangel angepasst. Die anhaltenden anthropogenen N-Einträge aus der Luft (N0x und Ammoniak) haben somit ein zentrales Regulativ nachhaltig verstellt. Einige der sichtbaren Folgen nehmen wir mit Entsetzen wahr. Mit Recht sprechen wir von „neuartigen Waldschäden“, von „Vitalitätsrückgang“ oder einem „Waldschadenssyndrom“. Denn die betroffenen Waldökosysteme sind ganzheitlich von den Baumkronen bis in tiefere Bodenschichten geschädigt oder zumindest abnorm verändert. Der Mensch in seinem unglaublichen Leichtsinn hat hier an einer evolutionär selektierten Stellgröße gedreht und der Wald mit all seinen Kompartimenten hat das Signal verstanden und in die Katastrophe umgesetzt. Dabei hätten wir die Folgen einer schleichenden N-Düngung für den Wald eigentlich bereits im Voraus aus den Erfahrungen der landwirtschaftlichen Düngung ( s. Liebigs Düngungslehre) bereits abschätzen können! Wie in der Landwirtschaft – aber mit weitaus nachhaltigeren Folgen – haben wir mit den Monokulturen der Nutzwälder auch die Holzproduktion industrialisiert und stehen nun vor einem Scherbenhaufen: Düngung, Monokultur, Selektion auf Hochleistung, technische Rationalisierung – kein Wunder, dass die Natur heute an so vielen Stellen einfach „nicht mehr mitspielt“.

Ich habe mir den ausgedehnten Windbruch durch den „Orkan Lothar“ (26.12.1999) im Hochschwarzwald angesehen. Ganze Berghänge und Hochflächen sind kahl rasiert und die entwurzelten Nadelbäume liegen wie Streichhölzer kreuz und quer übereinander. Der Anblick tut weh. Aber da gibt es z.B. ein europäisches Forschungsprojekt, in dem soll der ganze Holzbruch unangetastet liegen bleiben und man will über die nächsten Jahrzehnte genau verfolgen, wie der mechanisch zerstörte Wald „sich selber hilft“. Es ist schon beeindruckend zu sehen, wie viele verschiedene Baumarten sich im Schutz der neu geschaffenen Nischen aus den Samenreserven im Boden entwickeln. Dazwischen haben sich zuvor dort seltene Kräuter angesiedelt und auffallend viele Tierarten wurden bereits registriert. Was dort hoch wächst, wird mit Sicherheit nicht mehr der typische „Schwarzwald“ sein, sondern – wie die Experten prognostizieren – ein artenreicher, „naturnaher Mischwald“. So eröffnet eine derartige Naturkatastrophe dem regenerativen Potential des Ökosystems eine Chance zum Neuanfang – zugleich bedeutet sie aber auch einen Funken Hoffnung für unsere eigene Nachdenklichkeit. So sollten wir vielleicht darüber nachdenken, ob nicht das in Millionen Jahren etablierte und erprobte Evolutionsgeschehen aber vielleicht auch Liebig´s 160 Jahre altes „Gesetz des Minimums“ uns heute lebenden Menschen geeignete Orientierungshilfen für mehr Nachhaltigkeit in unserem Denken und Handeln liefern könnten.

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